„Zeit-Raum“ im Atelier von Anja von Wins (li.), Agnes Koch (2.v.li.), Neal O’Donoghue (m.), Karl Gößmann-Schmitt (2.v.re.) und Thomas Goerge (re.)
Jeder Tag – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Es ist der neunte November 1995. Der Kunststudent Karl Gößmann-Schmitt greift zu einem blauen Kugelschreiber und zeichnet auf 90 Millimeter Höhe und 65 Millimeter Breite des vorgeschnittenen weißen 920 Gramm Kartons ein Raster. Seit damals wiederholt er das jeden Tag ohne Unterbrechung: „Ich setze mich nach dem Aufstehen in der Früh hin, manchmal später, schreibe hinten das Datum auf und die Uhrzeit und beginne oben. Nachdem ich fertig bin, notiere ich auch die Zeit“, erzählt der 58 -Jährige zur Ausstellungseröffnung „Zeit-Raum“ im Atelier Anja von Wins im Seiboldhaus des Schlossguts Erching.
Leitlinie zum Bewusstsein
Im weißen Raum hängen an drei Wänden klar geordnet, jeweils sieben Halterungen für die Zeichnungen, die von oben nach unten einen Wochentag symbolisieren. So erklären sich auch die drei freien Plätze an der linken Wand, da das Werk an einem Donnerstag beginnt. Etwa 1000 Tage sind für den Betrachter sichtbar, alle anderen verbleiben in Karteikästen, die in strenger Symmetrie auf dem weißen Boden stehen. „Während meines Kunststudiums habe ich mehrere Sachen gemacht, die sich mit Ordnung, Disziplin, Meditation, Andacht, kontemplative Meditation befassen, also was man über lange Zeit macht. Ich hatte dann einfach die Idee, das Raster zu zeichnen“, erklärt der Künstler. Seine Arbeit habe vor allem mit Disziplin zu tun. Es sei eine gute Übung fürs Leben, macht Gößmann – Schmitt deutlich: „Etwas wird sichtbar, wenn man es über eine lange Zeit macht. Das Eigene, was man macht, ist wichtig. Es geht weniger um das „was“, sondern dass man kontinuierlich jeden Tag etwas macht, was ganz persönlich ist. Das hat jeder Mensch. Jeder Mensch lebt jeden Tag und das mache ich hier mit den Kärtchen für 20, fünf oder sieben Minuten, je nachdem, wie lange es dauert, bewusst. Das bin ich, jeden Tag.“
„Es ist eine außergewöhnliche Installation und eine Reise zurück in die vergangenen 27 Jahre zu jedem einzelnen Tag.“
Anja von Wins
Die Darstellung des Zustands – jeden Tag
Anhand der Karten sei sichtbar, was täglich passiere. Schon beim flüchtigen Betrachten sind deutliche Unterschiede erkennbar. Hier sind die Kästchen größer, dort kleiner, manchmal sind sie wellig, dann wieder äußerst akkurat: „Sie sind ganz unterschiedlich, kein Kärtchen ist wie das andere, obwohl es das gleiche ist. Es ist ein Stück Ausdruck der eigenen Verfassung. Die Handschrift ist jeden Tag anders, mal ist man aufgeregter, dann ist man nicht richtig ausgeschlafen und so weiter. Daher auch die Struktur. Zeichne ich jeden Tag etwas anderes, dann wird so etwas nicht sichtbar.“ Vielmehr will der Künstler nicht erklären. Karl Gößmann-Schmitt will es “einfach so stehen lassen“: „Ich möchte, dass es die Leute selbst erleben, denn es macht ja mit jedem etwas anderes. Manche Leute gehen hin und sind gleich irgendwie drin. Es ist wie so eine Matrix, in der man sich selbst wieder einklinken kann.“
Tag für Tag greift Karl Gößmann-Schmitt seit 1995 zu seinem Kugelschreiber und zeichnet ein Raster
Der geborgene Schatz
„Zeit-Raum“ ist die dritte gemeinsame Veranstaltung von Anja von Wins und Regisseur Thomas Goerge im Zusammenhang mit seinem Projekt „75 Hektar Wiese {460 m ü. N. N.}“, Voice of Erching“: „Wir hatten damals in allen vier Himmelsrichtungen Tore aufgebaut, dazu habe ich vier Künstler gefragt und Karl wollte sofort das Nordtor machen. Sein Tor ist jetzt hier eingesetzt und schützt seine Zeichnungen“, erklärt Goerge, der eher zufällig von Gößmann-Schmitts Rasterzeichnungen erfährt: „Ich war bei ihm und in seinem Keller holte er die Karteikästen raus und ich fand es einfach unglaublich, dass er jeden Tag diese Zeichnungen macht.“ Goerge weiß sofort: „Den Schatz müssen wir heben und ausstellen.“ Anja von Wins pflichtet ihm bei: „Es ist eine außergewöhnliche Installation und eine Reise zurück in die vergangenen 27 Jahre zu jedem einzelnen Tag. Gleichzeitig ist es eine Reise nach innen in die eigene Erinnerungswelt, und eine Reise in die Zukunft, zu jedem kommenden Tag, der uns erwartet“, sagt Anja von Wins.
Die Begleitung
Zur Eröffnung liest Neal O’Donoghue sein „Quadrichon im Ganzen“. Die Pausen zwischen den vier Texten gestaltet Agnes Koch mit Gongschlägen. Unter anderem beschäftigt sich der erste Teil der Lesung „Der Suchende“ mit den letzten Stunden eines russischen Wissenschaftlers, den Stalin 1931 hinrichten lässt: „Karl hat mich gefragt ob ich Lust hätte, Texte für seine Ausstellung zu schreiben, nicht wissend, was das bedeutet, ich habe mich aber darauf eingelassen“, so der Autor. In der Auseinandersetzung mit dem Werk erhält O’Donoghue das Jahr 1996 zur Ansicht: „Karl wusste es nicht, aber es ist ein Jahr, in dem viel in meinem Leben passiert ist, unter anderem ist meine Mutter gestorben. Ich war mir bewusst, das anzuschauen, würde das Schreiben stark beeinflussen.“ Interessanterweise fällt die Ausstellungseröffnung am 30. September auf den Geburtstag seiner Mutter: „Das spielt als Synchronizität eine Rolle und kommt in der Lesung vor.“
Ununterbrochen
Inzwischen ist das Werk um ein paar Kärtchen erweitert: „Es ist ein Ritual wie eine Meditation“, sagt Karl Gößmann-Schmitt: „Wenn ich die Zeichnung morgens mache, weiß ich, wie der Tag wird oder was in mir los ist.“
Für Sie berichtete Manuela Praxl.











